#1 OHNE FRAGEN, KEINE ANTWORTEN! – mit Lutz Dehne

REFLEKTIERT: Hallo Lutz, du warst einige Jahre als Sozialarbeiter tätig. In dieser Zeit hast du die sogenannte „Flüchtlingskrise“ hautnah miterlebt und sahst dich sozusagen in Echtzeit konfrontiert mit den Auswirkungen politischer Entscheidungen. Wie sind deine Eindrücke aus dieser Zeit und wie bewertest du rückblickend die Situation von damals?

Lutz: Wenn ich speziell an 2015 zurückdenke, erinnere ich mich an zwei Gefühle: Überforderung und Verbundenheit. Als im Sommer 2015 die wöchentlichen Aufnahmezahlen für Chemnitz immer weiter stiegen und gleichzeitig die Beratungs-und Betreuungsarbeit der bereits aufgenommenen Menschen immer anspruchsvoller wurde, wussten meine Kolleg:innen und ich oft nicht mehr, wohin zuerst und wie wir diese immense Arbeitslast bewältigen sollten.

Gleichzeitig hat mich Krise in meiner gesamten Arbeitszeit gelehrt, dass man sich in einem guten Team –und das war unsere Abteilung damals wirklich –immer gegenseitig hilft und das bringt mich zum Gefühl der Verbundenheit gegenüber meinen Kolleg:innen von damals. Dieses Gefühl hält auf gegenseitiger Ebene noch bis heute an.

Ich denke, dass die damaligen politischen Entscheidungen notwendig waren, aber auch sehr überhastet getroffen wurden. Ich meine, was will man machen, wenn täglich mehr Menschen an den Außengrenzen Europas oder auch deutschen Grenzen Einlass erhalten wollen. Da sind schnelle Reaktionen natürlich erforderlich. Dennoch ist die vorherige, bestmögliche Organisation in derartigen krisenbehafteten Situationen stets ein guter Ratgeber und aus soziologischer und weltpolitischer Sicht, war auch schon vor 2015 mit einer enormen Zwangsmigration nach Europa zu rechnen.

REFLEKTIERT: Über viele Jahre schwebte über der gesamten Thematik Merkels „Wir schaffen das“. Erst jetzt, im Jahr 2023, scheint bewusst geworden zu sein, dass für eine gute Integration mehr erforderlich ist als nur die bloße Ankunft der Geflüchteten. Schon vor 2015 waren die Verhältnisse in bspw. Kitas und Schulen vorsichtig ausgedrückt ausbaufähig. Verunmöglichen die fehlenden Kapazitäten in wichtigen Bereichen eine erfolgreiche Integration?
Direkt noch eine Frage im Anschluss: Was bedeutet für dich Integration?

Lutz: Die Frage kann ich nur auf zwei Ebenen beantworten, weil ich mir nicht sicher bin, ob du von Platzkapazitäten oder personellen Kapazitäten sprichst.

Nehmen wir bspw. den Bereich Kita. Von 2019 bis 2022 war ich als 2. Leitung in einer Chemnitzer Kita außerhalb der Innenstadt tätig. Im Zentrum gibt es keine Kita-Plätze. Lange Wartezeiten und -listen werden von den Einrichtungsleitungen gemanagt. Um das Zentrum herum gibt es jedoch Plätze in Kitas. Die Problematik ist, dass Geflüchtete mit einer Aufenthaltserlaubnis häufig im Chemnitzer Zentrum eine Wohnung suchen. Erst einmal ist die Nähe zur Innenstadt wichtig und auch die Mieten sind annehmbar. Die fehlende Mobilität stellt jedoch ein Problem dar. Wenn ich kein Auto habe, kann ich mein Kind nur mit hohem zeitlichen Aufwand in eine 5-10 km entfernte Kita bringen und von dort abholen. Ich erinnere mich an einen jungen syrischen Vater, der morgens seine 3 Kinder mit dem Bus vom Sonnenberg in das Heckertgebiet gebracht und nachmittags wieder abgeholt hat. Pro Strecke war er 1,5 Stunden unterwegs.

Reden wir an anderer Stelle über personelle Kapazitäten, so gebe ich dir teilweise Recht. Wieder am Beispiel Kitas: Häufig werden von den Kolleg:innen Sprach- oder kulturelle Barrieren in der Betreuung der Gruppen kommuniziert. Schwierigkeiten bei Elterngesprächen fußen teilweise auf einer mangelnden gegenseitigen Informationsbasis. Auch Traumata spielen bei den zu betreuenden Kindern mit Fluchterfahrung eine Rolle. Vor diesem Hintergrund und auf Basis des sächsischen Bildungsplanes, der besagt, dass jedes Kind als Individuum betrachtet und begleitet werden soll, sind es oft nicht nur personelle Kapazitäten, welche die Betreuung der Kinder enorm schwierig machen, sondern auch fehlende Weiterbildungen und Sensibilisierung der Kolleg:innen.

Und anhand dieses Beispiels kommen wir zu deiner Mammut-Frage, was Integration für mich bedeutet. Hier kann ich nicht ausschweifend antworten, weil sich viel klügere Menschen schon mit dieser Frage beschäftigt haben (z.B. Aladin El-Mafaalani –Das Integrationsparadox). Ich glaube, so wie auch im Buch dargestellt: Wenn mehrere Menschen an einem Tisch sitzen, die eine Meinung zu einem Thema haben, gelingt Integration nicht, wenn es am Tisch außerordentlich „ruhig“ läuft und sich die Menschen „benehmen“. Ich glaube, dass der Diskurs am Tisch dann mehr Herausforderungen bringt, um Kompromisse zu erarbeiten und empfinde das als ganz normal. Wichtig ist für mich nur, dass der Diskurs sachlich, wertschätzend und auf Augenhöhe stattfindet.

REFLEKTIERT: Fast täglich liest man in den Medien von Schlägereien größerer Männergruppen, Messerangriffen, sexuellen Übergriffen etc. Alles keine neuen Phänomene, aber die Frequenz hat sich gefühlt erhöht. Meldungen dieser Art können womöglich den Eindruck vermitteln, dass die Integration einer nicht geringen Anzahl von Migranten gescheitert ist. Hast du Verständnis dafür, dass sich Menschen nicht mehr sicher fühlen aufgrund der Häufigkeit dieser Meldungen in den Medien?

Lutz: Diese Frage wurde mir schon häufig gestellt und ist für mich ein Sozialarbeits-Albtraum geworden. Aber von vorn, um direkt auf deine Ja-/Nein-Frage zu antworten: Ich habe Verständnis dafür, dass sich Menschen aufgrund von medialer Berichterstattung nicht mehr sicher fühlen. Mein Eindruck ist nur, dass diese Angst nicht genügend reflektiert wird, weder von den Medien, noch von den Menschen selbst. Wovor habe ich denn genau Angst, wenn ich mich in gewissen Stadtteilen aufhalte? Davor, ausgeraubt zu werden oder vor Gewalt? Oder tatsächlich vor den Menschen, die diese Taten begehen? Fühle ich mich aufgrund der Berichterstattung unsicher, bspw. abends rauszugehen oder liegt es generell daran, dass ich mich im Dunkeln unsicher fühle?

Ich möchte die Unsicherheit der Menschen keinesfalls relativieren. Jedoch empfinde ich deine Aussage, von fast täglich stattfindenden Schlägereien, Messerangriffen oder sexuellen Übergriffen übermäßig pauschal und das meine ich mit meinem eingangs geschilderten Albtraum. Weißt du, ich habe in Familienprojekten, Wohnheimen, Wohnungen und im Sozialamt Geflüchtete beraten, betreut und begleitet. Und wenn ich dir sage, dass meine Erfahrungen zu mehr als 90 % sehr positiv waren und mich meine Arbeit dahingehend auch sensibilisiert und meine Perspektiven erweitert hat, empfinde ich die mediale Darstellung als Schlag ins Gesicht für alle Menschen, die mit der Aufnahme und Betreuung von Geflüchteten –in welchem Zusammenhang auch immer –zu tun haben. Zusammenfassend: Ich verabscheue jede Art von Gewalt. Ich frage mich nur, ob die Medien noch hinterherkommen würden, wenn sie erfolgreiche Entwicklungen von Geflüchteten darstellen müssten.

REFLEKTIERT: Worin siehst du Gründe für konfliktive Verhaltensweisen?

Lutz: Wenn du mit „konfliktiven Verhaltensweisen“ meinst, warum sich Migrant:innen nach Auffassung der Deutschen „nicht benehmen“, nur so viel: Jeder Mensch ist ein Individuum und hat seine ganz eigenen Gründe für ein gewisses Verhalten, was in seinem Kontext immer Sinn ergibt. Der Stereotyp „Messerstecher“ bspw. ruft in vielen Menschen ein gewisses Erscheinungsbild in Gedanken hervor, was auch völlig in Ordnung ist. Der Umgang mit diesem Bild ist dann der entscheidende Faktor, wie mit Imagination umgegangen wird.

Damit das ganze nun nicht so esoterisch daherkommt, vielleicht anhand eines Beispiels: So, wie wir Menschen nicht pauschalisieren können, ist das auch mit Verhaltensweisen nicht möglich. Natürlich könnte das anders empfunden werden, wenn im Dunkeln eine Gruppe von schwarz gekleideten Personen hinter einem herläuft. Andere Geschichte. Um zu sortieren: Ich glaube nicht, dass migrierte Personen, die mit Drogen handeln, körperlich übergriffig oder aggressiv auftreten bzw. sich abwertend äußern, vor ihrer Flucht davon geträumt haben, sich einmal so zu verhalten. Ich glaube, dass hier die individuelle Geschichte genau betrachtet werden muss: Aufenthaltsstatus, Chancen, eine Arbeit zu finden oder zumindest irgendetwas zu tun zu haben, der Zugang zu Deutschkursen und sozialen Kontakten, das Einbringen in Vereine, Netzwerke.

Um ganz salopp mit der Theorie der Lebensführung aus der Soziologie zu sprechen: Ich glaube, dass der Zugang und die Einbindung in so viele Systeme der Gesellschaft wie möglich auch einen sozialen Absturz verhindern kann. Oft ist vor allem nach dem unmittelbaren Ankommen in Deutschland der Zugang zu vielen Systemen verwehrt, wodurch die Integration gehemmt werden kann.

REFLEKTIERT: Bis vor kurzem sah man sich dem Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit ausgesetzt wenn man auf partielle Missstände in der Asylpolitik hingewiesen oder vereinzelt die religiöse Kompatibilität mit unserer Gesellschaft infrage gestellt hat. Mit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7.Oktober hat sich das geändert. Plötzlich kommen die Abschiebeforderungen direkt aus der Politik und medial wird der Eindruck vermittelt, dass ein Großteil der Muslime antisemitisch eingestellt ist, u.a. ist die Rede von „importiertem Antisemitismus“. Wie bewertest du die gegenwärtige Situation und wie sieht deine persönliche Erfahrung aus? Hat sich ein stark ausgeprägter Antisemitismus in deinem damaligen Arbeitsalltag bemerkbar gemacht?

Lutz: Diese Frage möchte ich aufgrund dessen nicht beantworten, weil ich aufgrund mangelnder Informationen mir hier keine Meinung bilden kann. Nur so viel: Das Thema Antisemitismus war in meiner fast fünfjährigen Arbeit im Bereich soziale Beratung und Betreuung geflüchteter Menschen nie relevant. Im Gegenteil: Aus den Schilderungen der Menschen ging oft hervor, dass bspw. vor den kriegerischen Handlungen in Syrien Menschen aller Konfessionen zusammengelebt haben und es keine Glaubenskonflikte gab. Aber wie gesagt, das kann ich nicht selbst beurteilen.

REFLEKTIERT: Wie hat dich dein damaliger Arbeitsalltag beeinflusst? Was hast du für dich persönlich aus dieser Zeit mitgenommen?

Lutz: Sei und bleibe offen –jedem Menschen gegenüber, denn sie haben oft eine interessante Geschichte zu erzählen. Und –aus der systemischen Perspektive –Verhalten macht immer Sinn. Ich verstehe vielleicht nicht immer die Verhaltensweisen von Menschen um mich herum, aber aus deren Perspektive sind sie sinnvoll. Genau diese Sensibilität habe ich in dieser Zeit erlernt bzw. vertiefen können.

REFLEKTIERT: Wir sehen uns gesellschaftlich mit einer Situation konfrontiert, in der mehrere Fronten aufeinander prallen und Konflikte entstehen, die zu einer Zerreißprobe werden. Wo gilt es deiner Meinung nach genauer hinzuschauen? Wo müssen wir Veränderungen erwirken, um eine positivere Zukunft gestalten zu können? Wie kann man die Leute zueinander bringen und eine gemeinsame Zukunft entwickeln?

Lutz: Da mir diese Frage viel zu pauschal und auch etwas suggestiv daherkommt, versuche ich mich ganz kurz und flapsig in einer Antwort. Wenn auf der einen Seite Vorurteile in den Köpfen sind und es handelt sich nicht um gelebten Rassismus, bei dem meines Erachtens nach viel früher vieles schiefgelaufen ist –andere Gesichte –gilt es, diese immer wieder zu reflektieren: Sind wirklich alle Menschen aus diesem Land so und so? Worauf bezieht man diese Denkweisen? Mit wie vielen Menschen aus diesem Land habe ich schon gesprochen? Kann ich vielleicht sogar mit einigen Menschen aus diesem oder anderen Ländern über dieses Verhalten reden?

Auf der anderen Seite sollte erlernt werden, welche kulturellen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen z.B. in einem Aufnahmeland sozial erwünscht sind, um gut ankommen zu können (Ich weiß, das ist viel zu einfach und wenig vielschichtig formuliert).

Und um das Ganze zusammenzuführen und nicht mehr von zwei Seiten zu sprechen–hier braucht es wieder den großen Tisch von Aladin El-Mafaalani: Es braucht Aushandlungsprozesse mit Ergebnissen, die in der Realität zu erproben sind.

Und was ist der Anfang von Aushandlung? Kommunikation!

REFLEKTIERT: Vielen Dank für deine Zeit. Zum Schluss würde ich dich bitten, meinem nächsten und noch unbekannten Gesprächspartner dieses Formates eine Frage zu stellen, die ich ihm/ihr stellvertretend vortragen werde.

Lutz: Gern! Meine Frage an die nächste zu interviewende Person: Wenn du dich entscheiden müsstest, wen würdest du lieber interviewen: Gott oder den Teufel?


Über den Interviewpartner: Lutz Dehne (37 Jahre)
– Abschlüsse: MA Soziologie, BA Soziale Arbeit
– Beruf: Sachgebietsleiter Wohnungsnotfallhilfe, Schuldnerberatung
– Sonstiges: Rapper und Ghostwriter
Podcast: König Ludwig

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17. Dezember 2023 OFKA