Minimalismus – Oder warum weniger mehr ist

Gastbeitrag von Marcel Klemm

Zu Beginn die Frage, was Minimalismus überhaupt ist? Jeder definiert ihn anders für sich, aber prinzipiell bedeutet Minimalismus ein Leben mit ausschließlich den Gegenständen, die man wirklich braucht und auch wirklich nutzt und die nicht jahrelang ungesehen in den Schränken liegen und damit unnötig Platz wegnehmen.

Ein Mensch besitzt durchschnittlich 10.000(!) Gegenstände. Das klingt viel, ist es auch, denn es gibt ebenso Menschen, die mit weniger als 100 Gegenständen auskommen und nichts vermissen, dabei sogar nachweislich deutlich glücklicher sind, wie Menschen, die wesentlich mehr besitzen. Besitz belastet, zu dieser Erkenntnis kommen viele Wissenschaftler und Therapeuten. Jedoch sind wir, insbesondere durch die Medien auf Konsum getrimmt und kennen ein Leben ausschließlich mit den wirklich wichtigen, wenigen Dingen gar nicht.

Einen Hype erfuhr der Minimalismus in der Welt durch die sogenannte Kon-Mari-Methode der namensgebenden Japanerin Marie Kondo, von der es auch eine Netflix-Serie gibt. Ihr Credo: „If it doesn´t spark joy, don´t keep it!“ (Wenn es keine Freude auslöst, behalte es nicht!“). Dabei geht man Zimmer für Zimmer durch und räumt ausnahmslos jeden Schrank komplett aus und wirft alles auf einen Haufen. Sind die Schränke leer, werden sie gereinigt. Nun nimmt man jeden Gegenstand in die Hand und stellt sich die Frage, ob er in einem Freude auslöst und ob man ihn wirklich braucht. Beantwortet man diese Fragen mit ja, kommt er auf den „Behalten-Stapel“, lautet die Antwort nein, kommt er in eine Kiste. Hat man alle Gegenstände durch, räumt man die Schränke nur mit denen ein, die auf dem „Behalten-Stapel“ liegen. Die in der Kiste soll man verkaufen, verschenken, spenden oder wenn es gar nicht anders geht, entsorgen. Die Leichtigkeit und Ordnung, die man empfindet und sieht, wenn man mit der kompletten Wohnung fertig ist, hat tatsächlich etwas magisches. Aber natürlich ist die Kon-Mari-Methode nicht für jeden geeignet, da man sich schon fragen darf, ob beispielsweise ein Küchenschäler in der Lage ist, Freude zu verbreiten. Selbstverständlich gibt es auch andere Methoden und Regeln, die man anwenden kann. Diese habe ich mal zusammengetragen:

20/20-Regel: Was man innerhalb von 20 Minuten für weniger als 20€ kaufen kann oder besser noch, ausleihen kann, kann weg.

80:20-Regel: Diese Regel ist sehr beeindruckend, wenn man sie sich mal versinnbildlicht – wir nutzen 20% unserer Gegenstände 80% unserer Zeit (Smartphone, Bett, Toilette,…).

90/90-Regel (auch 120/120-Regel): Was man in den vergangenen 90/120 Tagen nicht genutzt hat und/oder in den nächsten 90/120 Tagen nicht nutzen wird, kann weg.

1-Jahres-Regel: Was man im letzten Jahr nicht getragen hat, kann weg.

1/1-Regel: Grundsatz im Minimalismus – für jeden neuen Gegenstand, den man kauft, muss ein alter weichen.

365 Tagesregel: Entsorge jeden Tag mindestens einen Gegenstand, den du nicht mehr brauchst. (Nicht funktionierende Stifte, alte Feuerzeuge, einzelne Socken,…)

Überschlaf-Regel: Wenn du das Bedürfnis verspürst, etwas kaufen zu wollen, zum Beispiel, weil es schön aussieht oder gerade „günstig“ ist, gehe nach Hause und schlafe 2,3 Nächte darüber. Willst du es danach immer noch, dann kauf es, anderenfalls hat dich diese Regel vor einem sinnlosen Kauf bewahrt. Auffällig hier ist, dass wir es bei größeren Anschaffungen als selbstverständlich ansehen, uns genau zu überlegen, ob wir es wirklich brauchen und ob wir uns es überhaupt leisten können, während viele kleine Dinge einfach blind gekauft werden und man dann zu Hause feststellt, dass es eher ein Fehlkauf war. Das betrifft insbesondere viele Kleidungsstücke, von denen statistisch jedes ZWEITE nur einmal getragen oder ungetragen wieder entsorgt wird.

Sehr hilfreich für den Anfang ist die sogenannte 30-Tage-Challenge, bei der man jeden Tag einen Gegenstand mehr entsorgt, heißt am 1. Tag 1 Gegenstand, am 2. Tag 2 Gegenstände,…am 30. Tag 30 Gegenstände. Das klingt am Anfang nach viel, aber man wird schnell erstaunt sein, wie viel Spaß es macht und wie viel man eigentlich gar nicht braucht. Man muss ja nicht alles wegschmeißen, denn wie oben angemerkt, kann man auch, insbesondere zu Weihnachten an viele gemeinnützige Einrichtungen spenden.

Vor gar nicht so langer Zeit habe ich im Fernsehen einen Bericht gesehen, der mich nachdenklich machte – es ging dabei um die verheerenden Brände in Australien und die Frage, was man tun soll, wenn man innerhalb weniger Minuten die Wohnung verlassen muss. Dafür klingelte ein Kamerateam bei mehreren Familien und simulierte diese Situation und sagte den Familien, sie hätten 5 Minuten Zeit die Wohnung zu verlassen und sie sollen alles mitnehmen, was wichtig ist. Hierbei gab es ein älteres Ehepaar, welches mich nachhaltig beeindruckt hat, vielmehr war es der Mann, der mich beeindruckte. Währenddessen seine Frau durch die Wohnung hetzte um Fenster zu schließen und alles ihrer Meinung nach wichtige zusammenzusuchen, stand der Mann seelenruhig im Flur und wartete bis seine Frau fertig war. Verwundert fragte ihn das Fernsehteam, warum er denn so ruhig sei? Er antwortete, dass er Pilot sei und gelernt habe, in sämtlichen Gefahrensituationen nur eins zu retten: das eigene Leben, da alles ersetzbar sei, außer eben dieses Leben. Die Quintessenz dieser Aussage ist beeindruckend wie tiefsinnig. Was ist alles wert ohne unser Leben, ohne unsere Lieben, ohne Gesundheit? Meine Antwort darauf lautet: NICHTS!

Eine andere Reportage vom NDR („Wie viele Dinge brauchen wir wirklich?“), welche man auch bei YouTube sehen kann, ging einen anderen Weg. Hierbei wurde einer Familie die komplette Wohnung ausgeräumt und innerhalb einer Woche durfte die Familie pro Person jeden Tag einen Gegenstand aussuchen, den sie zurück haben wollte. Es war sehr beeindruckend zu sehen, was wirklich wichtig ist und zu welcher Erkenntnis das nach dieser Woche bei der Familie geführt hat. Vielleicht kann man auch mit diesem Ansatz seine Wohnung „entrümpeln“, indem man sich beispielsweise fragt: Welche 100 Gegenstände braucht man wirklich?

Es ist teilweise echt traurig sehen zu müssen, wie viele Menschen an bestimmten einzelnen Gegenständen hängen und sie zum absoluten Kultstatus deklarieren, dabei aber außer Acht lassen, was diese Gegenstände noch wert sind, wenn es an die essentiellen Dinge wie Gesundheit oder Nachhaltigkeit geht.

Ich bezeichne den Minimalismus als Reise, weil er nie aufhört und man immer wieder neue Facetten findet. Meine Reise mit dem Minimalismus begann im Mai 2014. Zu dieser Zeit war meine Frau für 3 Tage verreist und ich war allein zu Hause und hatte demnach auch Zeit – viel Zeit. Zu diesem Zeitpunkt würde ich sagen, waren wir vom Besitz her eine Durchschnittsfamilie. Wir hatten die Wohnung nicht übervoll mit Möbeln und Gegenständen voll stehen, aber sie war auch nicht halbleer, wenngleich dieser Begriff etwas fehlinterpretiert werden kann. Ich bin nun Stück für Stück durch jeden Raum unserer 76 m² 3-Raum-Wohnung gegangen und habe geschaut, was man denn von den Gegenständen überhaupt noch nutzt und welche weg können. Nachdem ich mit jedem Raum fertig war und natürlich auch gleich eine Intensivreinigung jedes Raumes vorgenommen hatte, sammelten sich 3 große 60 Liter-Säcke an mit allerlei Dingen, die wir nie wirklich genutzt haben, noch wirklich brauchten. Und ohne, dass ich wirklich wusste, dass man das im Grundsatz Minimalismus nennt, war es für mich, die erste positive befreiende Erfahrung mit diesem.

Als meine Frau wiederkam, war sie natürlich begeistert, ob der Ordnung und Sauberkeit in unserer Wohnung. Für den Moment war ich zufrieden, aber richtig losgelassen hat mich der Minimalismus seitdem nicht mehr. Ich habe zeitweilig immer wieder mal „ausgemistet“ um diese Ordnung beizubehalten und dabei auch sicher die ein oder andere unpopuläre Entscheidung getroffen, da man sich eben auch von Dingen getrennt hat, von denen die Frau dachte, dass man sie noch braucht, dies aber nicht der Fall war. Im Übrigen ist das am Anfang auch normal, dass man so denkt, denn das Loslassen und das Verstehen bedarf einer Weile.

Richtig intensiv wurde mein Minimalismus im Mai 2019. Ich hatte mir ein YouTube-Video einer Influencerin angesehen, die eine Wohnungs-Tour ihrer minimalistischen Wohnung machte. Und ja, diese Wohnung war definitiv minimalistisch. Das, was ich bei diesem Video empfunden habe, kann ich gar nicht richtig beschreiben und doch war es genau das, was ich auch wollte – eine klare, strukturierte, aufgeräumte und minimalistische Wohnung mit Räumen, die „atmen“ können und keine „schweren“ Möbel enthalten, mit Schränken, die nicht vor lauter unnötigen Sachen überquellen und man die wichtigsten Dinge einfach griffbereit hat. In den Wochen nach diesem Video habe ich alles, was ich zum Thema Minimalismus gefunden habe, aufgesaugt und sofort umgesetzt und ich spürte regelrecht, wie alles immer leichter, aufgeräumter und befreiender wurde. Am Ende dieser Zeit machte auch ich eine Wohnungs-Tour, für ein paar Familienangehörige und Freunde. Beim anschauen des Videos war ich einerseits stolz auf das erreichte und im nächsten Moment aber auch geschockt, wie viele Dinge wir immer noch hatten, die wir eigentlich gar nicht brauchten.

Also machte ich in den nachfolgenden Wochen weiter. Insgesamt 30 Möbelstücke, welche teilweise durch kleinere ersetzt wurden, 20 große 60 Liter-Säcke mit Kleidungsstücken, Bettwaren, Stoffen und Schuhen, sowie 10 große Müllsäcke verließen in dieser Zeit neben den vielen Dingen, die bei Kleinanzeigen verkauft oder verschenkt wurden, die Wohnung.

Die Leichtigkeit, welche die Wohnung nun ausstrahlt, macht regelrecht süchtig, da man einfach merkt, dass es nicht viel braucht um glücklich zu sein. Diese Erkenntnis macht mich und viele andere zu glücklicheren, ausgeglicheneren Menschen.

Abschließend nochmal eine Zusammenfassung, welche Vorteile es hat minimalistisch zu leben:

1. Man spart Geld – durch den bewussten Verzicht auf unnötige Käufe, bleibt mehr im Portemonnaie übrig, was man dann entweder sparen kann oder in etwas sinnvolleres investieren kann, wie zum Beispiel ein Ausflug oder ein Urlaub.
2. Man spart Zeit – durch weniger Besitz muss man sowohl weniger aufräumen als auch weniger putzen. Diese Zeit kann man dann bewusst in sich selbst investieren oder mit den Liebsten verbringen.
3. Man wird ruhiger und ausgeglichener – dadurch, dass man nicht ständig Dinge suchen muss, da alles seinen Platz hat, aufgeräumt und strukturiert ist, wird man ruhiger.
4. Man lebt gesünder – dadurch, weil man seinen Fokus auf die wichtigen Dinge legen kann, hat man bessere Laune und ist weniger gestresst, was wiederum der Gesundheit zugute kommt.
5. Man lernt Dinge wertzuschätzen – dadurch, dass man nur noch Gegenstände und Kleidung besitzt, die man wirklich braucht, lernt man sie mehr wertzuschätzen und kauft auch bewusster Dinge ein, die einem einen Mehrwert bringen.
6. Man wird glücklicher – durch weniger Besitz, mehr Zeit und mehr Geld wird man insgesamt glücklicher, da man mehr in Erlebnisse und Erinnerungen investieren kann.

Versucht es doch auch mal!

 

6. Dezember 2020 Gastbeiträge